Interpretieren

Sie sollten daher bereits Ihre Befunddokumentation und -interpretation an den Fragen orientieren, die später bei Gericht relevant werden können

Ihr*e Patient*in wird möglicherweise lange nach der Tat und der klinischen Gesundung im Rahmen einer Gerichtsverhandlung wieder mit dem Geschehenen und der*dem Täter*in konfrontiert werden. Es wird dann um die möglichst genaue Rekonstruktion der Geschehnisse gehen. Wenn die Verletzungen Ihrer Patientin bzw. Ihres Patienten „gerichtsfest“ dokumentiert und richtig diagnostiziert, Spuren und anderes Untersuchungsmaterial professionell gesichert wurden, kann dies erheblich den Ablauf eines Strafverfahrens erleichtern und so mittelbar eine sekundäre Traumatisierung des*der Gewaltbetroffenen vermeiden. Sie sollten daher bereits Ihre Befunddokumentation und -interpretation an den Fragen orientieren, die später bei Gericht relevant werden können. Diese sind im Wesentlichen die Folgenden:

  • Was für eine Verletzung liegt vor? (Verdachts-) Diagnosen – Lässt sich eine Misshandlung mit ausreichender Sicherheit feststellen? Wie sind die Befunde im Kontext mit der Anamnese zu bewerten? Für diese Fragen kommen u.a. Aspekte der Lokalisation, des Ausmaßes und der Art der Verletzung in Betracht.
  • Wie ist die Verletzung entstanden? Hierbei sind u.a. die Art der Verletzung und weitere Charakteristika, z.B. ein geformtes Hämatom als „Abdruck“ der eingewirkten Gewalt, zu berücksichtigen. Wie sind die Befunde im Kontext mit der Anamnese zu bewerten?
  • Wann wurde die Verletzung beigebracht? Für die zeitliche Einordnung von Verletzungen sind insbesondere die Farbkomponenten von Hämatomen oder die Wundbeschaffenheit in den verschiedenen Abheilungsstadien von Bedeutung.
  • Wie gefährlich ist die Verletzung? Hier ist Ihre fachkundige Einschätzung der Schwere der Gewalt gefragt. Neben der Schwere der erlittenen Verletzungen sind bei der Beurteilung auch die betroffenen Körperregionen relevant. Wichtige Anhaltspunkte zur Beurteilung sind die Notwendigkeit einer sofortigen (intensiv-) medizinischen Behandlung, einer stationären Aufnahme, einer Operation oder gar einer Reanimation bzw. anderer lebensrettender Maßnahmen. Ferner sollte die Wahrscheinlichkeit von Folgeschäden und dauerhaft anhaltenden Einschränkungen eingeschätzt werden.

Die wesentliche Grundlage zur Beantwortung dieser Fragen wird Ihre aussagekräftige Befunddokumentation sein. Sie legen damit den Grundstein für eine rasche Genesung Ihrer Patient*innen sowie gut gelingende strafprozessuale Abläufe.

Nicht jeder Missbrauch hinterlässt Spuren, daher schließt das Fehlen von körperlichen Hinweisen eine erfolgte Gewalttat nicht aus.

„Absence of evidence of abuse is no evidence of absence of abuse.”

Bleiben Sie daher auch beim Fehlen von körperlichen Hinweisen objektiv und ergebnisoffen, um die weitere Befundung nicht durch eine – vielleicht falsche – Vorverurteilung zu beeinflussen. Verzichten Sie in solchen Fällen nicht darauf, Asservate (z. B. Hautabriebe, Schleimhautabstriche, etc.) zu entnehmen. Sprechen Sie uns im Zweifelsfall gerne an.