Hintergrund und Ziele von iGOBSIS
Hintergrund
Sexualisierte und häusliche Gewalt sind weit verbreitet. 2023 wurden laut der BKA-Statistik in Deutschland insgesamt 167.639 (2022: 157.550; +6.4 %) Fälle von Gewalt in Partnerschaften erfasst – mit davon 79.2% weiblichen Betroffenen (BKA, 2023). Eine Europaweite Studie zeigt, dass jede dritte Frau nach ihrem 15. Lebensjahr eine Form des körperlichen und/oder sexuellen Übergriffes erlebt hat (FRA, 2014). Hinweise auf die besondere Bedrohungslage liefert auch der Jahresbericht des Hilfetelefons „Gewalt gegen Frauen“, wonach 2023 mit insgesamt 52.950 Telefon-Beratungen rund 13% mehr Kontakte registriert wurden als im Vorjahr (BMFSFJ/BAFzA, 2023). Alle Formen von Gewalt können zu erheblichen psychischen, psychosozialen und gesundheitlichen, meist chronischen Folgen für Betroffene führen. In ihrer gesundheitlichen, gesundheitspolitischen und gesundheitsökonomischen Dimension sind die vielfältigen gewaltbedingten Gesundheitsschäden mit denen von Krebs- und Herz-Kreislauf-Erkrankungen vergleichbar.
Ärztinnen und Ärzte sind erste Ansprechpartner*innen
Häufig sind es Gesundheitseinrichtungen, die von Gewaltbetroffenen wegen vielfältiger Beschwerden aufgesucht werden (Sardinha et al., 2022; Bacchus et al., 2018). Damit nimmt die Ärzteschaft eine bedeutende Schlüsselrolle bei der Betreuung von Menschen mit Gewalterfahrungen ein (Hunold et al., 2023; Schellong et al., 2022). Nach einer Gewalttat ist es von entscheidender Bedeutung, dass Betroffene niederschwellig und schnell Kontakt zu qualifizierten Ärztinnen und Ärzten aufnehmen können, um
(1.) Gewaltfolgen dokumentieren und Spuren sichern zu lassen sowie
(2.) Zugang zu medizinischer Versorgung und psychosozialer Unterstützung zu bekommen.
Auf diese Weise können ernste gesundheitliche und soziale Folgen für Betroffene abgemildert werden und nur so ist sichergestellt, dass Straftaten auch bei späterer Anzeige adäquat geahndet werden können. Tatsächlich erstatten Betroffene nicht selten verzögert Anzeige. Angebote einer Vertraulichen Spurensicherung stellen sicher, dass auch ohne sofortige Einschaltung der Ermittlungsbehörden Befunde und Spuren gerichtsfest gesichert werden, sodass bei ggf. später folgender Anzeige darauf zurückgegriffen werden kann.
Vertrauliche Spurensicherung als Krankenbehandlung im Sinne der §§ 27, 132k SGB
Die Wichtigkeit der Vertraulichen Spurensicherung durch Ärztinnen und Ärzte wurde durch den Gesetzgeber anerkannt, indem dieses Angebot an Betroffene durch § 27 und § 132k SGB V als „Krankenbehandlung“ definiert wurde und als solche künftig mit den gesetzlichen Krankenkassen abgerechnet werden kann.
Nicht zuletzt daraus ergibt sich die Frage, wie die „Eignung“ von Ärztinnen und Ärzten für die Vertrauliche Spurensicherung in der Fläche (um wohnortnahe Anlaufstellen zu bieten) gewährleistet werden soll. In der Praxis werden Betroffene von Gewalttaten aus unterschiedlichen Gründen (z.B. Art der therapiebedürftigen Verletzungen, Dringlichkeit der medizinischen Versorgung, Örtlichkeit) von Ärztinnen und Ärzten verschiedenster Disziplinen gesehen. Dabei kann nicht einfach vorausgesetzt werden, dass alle Kolleg*innen jedweder Fachrichtung forensisch-traumatologisch ausreichend erfahren sind, um Misshandlungen zu erkennen, Verletzungen richtig zu interpretieren, sie gerichtsfest zu dokumentieren und Spuren sichern zu können. Dafür muss sichergestellt sein, dass klinisch tätigen Kolleg*innen zuverlässig jederzeit fallbezogene rechtsmedizinische Kompetenz über entsprechende Fachärztinnen und Fachärzte zur Verfügung gestellt wird. Genau zu diesem Zweck wurde iGOBSIS entwickelt.
Ziele
Die Grundidee hinter iGOBSIS ist die Sicherstellung einer gerichtsfesten Dokumentation und Spurensicherung sowie die Verfügbarmachung rechtsmedizinischer Kompetenz (24/7) über den Ansatz eines „intelligenten Gewaltopfer-Befundsicherungs- und -Informationssystems“ (iGOBSIS). Mittlerweile unterstützt iGOBSIS hunderte Ärztinnen und Ärzte in ganz NRW bei der medizinischen Versorgung von Gewaltbetroffenen jeden Alters und Geschlechts sowie nach jeglichem Gewalterleben, das körperliche Spuren hinterlässt.
Der iGOBSIS-Ansatz bringt rechtsmedizinische Kompetenz in einem zentral–dezentralen Ansatz in die Fläche, der im Wesentlichen auf folgenden Säulen beruht:
- „Zentrale“ ist das Institut für Rechtsmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf, das mit seiner Ambulanz auch selbst Anlaufstelle für Betroffene ist.
- Die dezentrale „GOBSIS“-Idee: Allen Netzwerkpartner*innen wird die – in Vorgängerprojekten bereits positiv evaluierte – webbasierte Dokumentationsanwendung iGOBSIS zur Verfügung gestellt, die (1.) eine gerichtsfeste Dokumentation, die Spurensicherung wie auch den Transport von Proben zur Lagerung in einem rechtsmedizinischen Institut einfach, standardisiert und sicher ermöglicht sowie (2.) rund um die Uhr und an jedem Tag des Jahres rechtsmedizinische, telematisch basierte, fallbezogene Unterstützung gewährleistet.
- Regelmäßige Schulungen (digital und über die von der ÄKNO zertifizierte E-Learning-Plattform) sorgen für die Bildung und Aufrechterhaltung einer Grundqualifikation in den Netzwerk-Einrichtungen.
Rechtsmedizinisch-geschulten und sensibilisierten Pflegekräften kommt in der Gewaltbetroffenenuntersuchung eine große Bedeutung zu. Über eine speziell ausgebildete Forensic Nurse sollen Pflegekräfte in den Netzwerk-Einrichtungen kontinuierlich fortgebildet werden. Ebenfalls findet eine Begleitforschung zur Frage der Unterstützung der Vertraulichen Spurensicherung durch Ärztinnen und Ärzte in NRW nach Umsetzung der einschlägigen Neuregelungen des SGB V statt.
Das Projekt wird mit finanzieller Unterstützung der Landesregierung Nordrhein-Westfalen und durch das Ministerium für Kinder, Jugend, Familie, Gleichstellung, Flucht und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen gefördert.
Wie funktioniert iGOBSIS?
iGOBSIS ist ein webbasiertes, schnell erlernbares Dokumentationssystem und Informationsportal, das Ärztinnen und Ärzten bei Gewaltbetroffenenuntersuchungen, Verletzungsdokumentation, Spurenasservierung und Weiterleitung in das psychosoziale Hilfenetzwerk unterstützt. Auch eine 24-Stunden on-demand-Beratung durch rechtsmedizinisches Fachpersonal bietet das System an und ermöglicht Ärztinnen und Ärzten so, sich bei konkreten, fallbezogenen Fragestellungen kollegialen Rat zu holen.
Da die Nutzung des Dokumentationssystems nur mit geschütztem Zugang ermöglicht wird, gewähren wir Ihnen hier einen kurzen Einblick in einen fiktiven Beispielfall:
Literatur
- Bacchus, L. J., Ranganathan, M., Watts, C., & Devries, K. (2018). Recent intimate partner violence against women and health: a systematic review and meta-analysis of cohort studies. BMJ open, 8(7), e019995. 10.1136/bmjopen-2017-019995
- BMFSFJ/BAFzA (2023): Jahresbericht des Hilfetelefons Gewalt gegen Frauen 2023. https://www.hilfetelefon.de/fileadmin/content/04_Materialien/1_Materialien_Bestellen/Jahresberichte/2023/
BAFzA_Hilfetelefon_Gewalt_gegen_Frauen_Jahresbericht_2023_bf.pdf - Bundeskriminalamt (BKA) (2023). Lagebild Häusliche Gewalt 2023. https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/JahresberichteUndLagebilder/HaeuslicheGewalt/HaeuslicheGewalt2023.html
- FRA – Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (2014). Gewalt gegen Frauen: eine EU-weite Erhebung – Ergebnisse auf einen Blick. Luxemburg: Amt für Veröffentlichungen. https://fra.europa.eu/sites/default/files/fra_uploads/fra-2014-vaw-survey-at-a-glance-oct14_de.pdf
- Hunold, T., Muggenthaler, H., Sauer, S. et al. (2023). Verletzungsdokumentation und Strafverfolgung bei häuslicher Gewalt: Hellfeldstudie an allen Ermittlungsverfahren eines Jahres in Thüringen Rechtsmedizin, 33, 246–252. https://doi.org/10.1007/s00194-023-00644-x
- Sardinha, L., Maheu-Giroux, M., Stöckl, H., Meyer, S. R., & Garcia-Moreno, C. (2022). Global, regional, and national prevalence estimates of physical or sexual, or both, intimate partner violence against women in 2018. The Lancet, 399(10327), 803-813. https://doi.org/10.1016/S0140-6736(21)02664-7
- Schellong, J., Epple, F., Lorenz, P., Ritschel, G., Croy, I., Lenk, M., … & Weidner, K. (2022). Häusliche Gewalt und Partnerschaftsgewalt–eine Herausforderung im Gesundheitssektor. Psychiatrische Praxis, 49(07), 359-366. https://doi.org/10.1055/a-1630-4619